Tödliche Umarmungen
Mitten in der texanischen Wüste wird derzeit im Innern eines ausgehöhlten Berges eine riesige mechanische Uhr errichtet, getauft auf den Namen „The Clock of the Long Now“. Das Chronometer wird nur alle 365 Tage ticken, und hat einen Zeiger, der nicht Stunden anzeigt, sondern Jahrhunderte. Das Land drumherum gehört einem der reichsten Männer der Welt: Jeff Bezos. Wer wissen möchte, wie der Multimilliardär tickt, bekommt hoch oben in den Sierra Diablo Bergen einen wichtigen Hinweis: dieser Mann denkt in großen Etappen.
Das sollten wohl auch alle zur Kenntnis nehmen, die mit Amazon zu tun haben – denn auch das von Bezos 1994, also vor genau zwanzig Jahren gegründete Unternehmen hat einen sehr langen Atem. Gewinne werden nicht ausgewiesen, trotz kontinuierlich steigender Umsätze wird alles verfügbare Geld in die weitere Expansion investiert. Kindle Reader, Kindle Fire Tablet, Fire TV, Fire Phone, et cetera: Was mit dem Online-Versand mit Büchern, Gummistiefeln und Waschmaschinen begann, hat längst seine Fortsetzung in Geräten und Content gefunden.
Insofern ist Daniel Leisegangs kritische Amazon-Studie mit dem Untertitel „Das Buch als Beute“ nicht nur eine Engführung, sondern fast schon eine Art Missverständnis:
denn im Buchhandel ist Bezos eher zufällig gelandet, sein eigentliches Metier war bis Anfang der Neunziger Jahre der computergestützte Börsenhandel. Früh wurde er auf das boomende World Wide Web aufmerksam, und nutzte clever die immensen Wachstumsraten der Internet-Ökonomie für eigene Zwecke. Das Garagen-Startup Amazon.com nannte sich zwar keck „größte Buchhandlung der Welt“, hatte aber eigentlich nur den größten Katalog der Welt. Mehr lesen